Michaela Maria Müller

Essais

Die Lager Schlesiens – Topografien

Der erste Bahnhof, an dem der Zug hinter der deutsch-polnischen Grenze Station macht, ist Rzepin. Fahrgäste aus Berlin steigen um und warten am Bahnsteig auf den Schnellzug nach Oppeln. Der Bahnhof hat erst seit wenigen Jahren ein Containerterminal, heute gut bestückt und beladen mit Waren aus China, die immer häufiger über die Schiene nach Europa transportiert werden.

Ich verfolge mit dem Smartphone unseren Weg und sehe, wie sich der blaue Punkt weiter Richtung Osten bewegt. Wir fahren an der Oder entlang und überqueren sie immer wieder. Vor Beginn der Reise habe ich Schlesien oft auf Karten heran- und herausgezoomt, zwischen Satelliten- und Topografiekarten wechselnd, habe alte Flözkarten studiert, die aus der Zeit stammen, als die Bergbauregion noch inmitten des Deutschen Reiches lag, als in Kattowitz die Synagoge noch neben dem Gymnasium stand und sich im Norden die Ferdinandgrube anschloss, deren Flöze Jakob, Karoline, Xaver oder Veronika Blücher hießen. Sie wurden mit blauen und roten Linien markiert, die sich auf den Karten wie Venen und Arterien durch einen Körper zogen.

Die Nationalsozialisten brachten die Lager nach Schlesien. Während des Zweiten Weltkriegs lag Schlesien im Wehrkreis VIII, wo es sieben sogenannte STALAGs und OFLAGs gab, deutsche Stamm- und Offizierslager für europäische Kriegsgefangene. In unzähligen Außenlagern der Konzentrationslager mussten Häftlinge Zwangsarbeit leisten, etwa in der Zementfabrik von Golleschau, für die Reichsbahn in Gleiwitz, für das Kraftwerk in Neu-Dachs. Allen voran aber Auschwitz.

Die Infrastruktur der Lager blieb nach Kriegsende bestehen. Jetzt wurden Deutsche oder solche, die man dafür hielt, dort interniert und warteten auf ihre Umsiedlung. Sie waren in den Lagern von Eintrachthütte, Myslowitz und Lamsdorf untergebracht. Viele sind an Hunger, Folter und Krankheiten gestorben.

Auch ehemalige Wehrmachtssoldaten waren jetzt in Gefangenschaft. Einer von ihnen war mein Großvater, Melder bei der Infanterie. Er wurde lange nicht einberufen, da er als Landwirt den Status u.k. (unabkömmlich) hatte. Dann wurde er 1944 als Kraftfahrer ausgebildet und an die Front versetzt. Im April 1945 wurde er von russischen Soldaten gefangengenommen und blieb bis März 1949 Kriegsgefangener in einem schlesischen Steinkohlebergwerk, als Bergarbeiter.

Kriegs- und Gewalterfahrungen beeinflussen Familien über Generationen, und es soll nicht darum gehen, das Leid der Opfer gegen das der Täter aufzurechnen. Aber vieles hat sich in unserer Familie verändert, einer Täterfamilie, wenn man so will. Dazu gehört etwa die spätere Haltung meines Großvaters zum Wehrdienst: Als mein Vater und seine zwei Brüder in den 1960er Jahren eingezogen werden sollten, setzte sich mein Großvater dafür ein, dass seine Söhne zurückgestellt würden, Militär- und Männlichkeitsideale hin oder her. Ob dem stattgegeben würde, darüber befand eine Kommission. Ein Mitglied dieser Kommission war jedoch der Bruder meines Großvaters, der durchaus der Meinung war, dass dessen drei Söhne den Wehrdienst leisten könnten und der elterliche Bauernhof die Dauer ihrer Abwesenheit überstehen würde. Meinem Großvater ging es aber nicht um die fehlenden Arbeitskräfte auf dem Hof, sondern den Dienst an der Waffe, von dem er nicht wollte, dass seine Söhne ihn verrichten. Zwischen den Brüdern gab es Streit. Schließlich wurde der älteste Sohn zurückgestellt, die beiden anderen mussten den Wehrdienst leisten.

Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im Juni 1949 schrieb mein Großvater seine Erinnerungen auf. Ich kenne sie erst seit ein paar Jahren. Es sind bruchstückhafte drei Seiten, die sich zusammen mit der Autobiografie des Journalisten Harri Czepuck zu einem genaueren Ganzen fügen, denn er und mein Großvater hielten sich zur gleichen Zeit an denselben Orten auf, wie ich durch Zufall bei einer Recherche erfahre. Dass sie sich näher kannten, ist hingegen unwahrscheinlich, zum einen wegen der großen Anzahl der Gefangenen, aber auch wegen des Altersunterschieds: Czepuck war zum Zeitpunkt der Gefangennahme erst achtzehn Jahre alt, mein Großvater bereits fünfunddreißig.1

Mein Bruder und ich sind mit meinem Großvater aufgewachsen. Wir haben viele Winterabende kartenspielend am Küchentisch verbracht, bis meine Eltern auf dem Hof mit der Arbeit fertig waren. Den Krieg und die Gefangenschaft in Schlesien hat er dabei nie erwähnt. Es hat aber Zeiten in seinem Leben gegeben, in denen er darüber gesprochen hat. An den Namenstagen seiner vier Kinder etwa, die wie Geburtstage begangen wurden. Zu dieser Gelegenheit durften sie länger aufbleiben, und manchmal erzählte er dann davon. Nur was, daran erinnert sich niemand mehr.

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Erschienen im Merkur 850 im März 2020