Michaela Maria Müller

Essais

Trennlinien. Die Bildungsklassengesellschaft der achtziger Jahre

Die Schwestern verließen die Stadt 1981, im Jahr meiner Einschulung. Über hundert Jahre hatten sie Mädchen aus der Gegend unterrichtet. In Bayern galt ab 1802 die Schulpflicht. Die Klassenstärke von etwa siebzig Schülerinnen und Schülern war beachtlich, die pädagogischen Fähigkeiten der Schwestern und ausgedienter oder invalider Militärs waren aus heutiger Sicht sicherlich begrenzt. Nach sechs, später sieben Jahren war es außerdem verpflichtend, im Anschluss an den Sonntagsgottesdienst noch für drei Jahre die Feiertagsschule zu besuchen, um die sogenannte Christenlehre des Katechismus zu studieren.

Erst ein halbes Jahrhundert nach der Ankunft der Schwestern 1854 waren Trinkwasserleitungen gelegt und elektrisches Licht auf zwei Fluren angebracht worden. Wirklich willkommen hatte man sie nie geheißen, Arbeit ging vor Bildung. Bildung stahl nur die Zeit und verstellte den Blick auf das, was man für wichtig hielt.

Im angrenzenden Kindergarten hatte ich von den letzten drei Schwestern noch eine kennengelernt. Sie war unsere Erzieherin. Wir sprachen sie mit »Schwester Dulcedia« an. Sie trug einen schwarzen Habit und einen Schleier, alles aus einer schier unendlichen Menge von Stoff, sowie eine weiße, eckige Haube auf dem Kopf, die die Stirn streng einfasste.

Grundschule

Durch die Mitte des taubenblauen Schulgebäudes lief eine Symmetrieachse, die die Eingangstür des dreigeschossigen Hauptgebäudes in zwei Hälften teilte. Rechts und links wurde es von niedrigeren, zweigeschossigen Nebengebäuden flankiert, die ihm beisprangen wie zwei gebückte Lakaien. Achtfach unterteilte Kastenfenster nahmen der Symmetrie die Strenge. Auf jedem Gebäudeteil schob sich ein Mansarddach wie ein breitkrempiger Hut weit nach vorn. Mauervorsprünge, die sich wie Geschenkbänder um das ganze Ensemble schlangen, schienen es zusammenzuhalten.

Ich zähle auf dem alten Klassenfoto durch. Neun von uns wechselten am Ende der Zeit aufs Gymnasium, elf auf die Hauptschule, zwei auf die Sonderschule. Während für uns der Unterschied zwischen Hauptschule oder Gymnasium noch keine große Rolle zu spielen schien, war der zwischen Haupt- und Sonderschule schon damals eklatant. Hauptschule war okay, ein sicheres Ticket, das den Jungen den Eintritt in einen Handwerksberuf, den Mädchen eine Ausbildung zur Arzthelferin oder im Einzelhandel garantierte. Sonderschule jedoch war ein Makel, etwas mit dem gedroht wurde, wenn man mit schlechten Noten nach Hause kam. Bei dem Kompositum »Sonderschule« lag die Bedeutung von »Sonder« nämlich nicht darauf, dass jemand besonders war. Es ging um ab-sondern, um Isolation, um Ausschließen. Vor was konnte man als Zehnjährige mehr Angst haben?

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Erschienen im Merkur 866 im Juli 2021